Moira
von Younghi Pagh-Paan
für Mezzosopran (mit Holzstab) und Akkordeon
Die Einbettung
„Moira“ ist ein mitreißendes Werk Younghi Pagh-Paans, der altgriechische Titel bedeutet „Schicksal“. „Moira“ ist die Hauptarie der Antigone in der Oper „Mondschatten“. Dies ist ihre bisher einzige Oper. Sie wurde 2006 in Stuttgart uraufgeführt. „Moira“ entstand am Anfang des Schaffensprozesses und wurde 2004 in Bremen von Katharina Rikus und mir uraufgeführt. Die Oper knüpft in ihrer Handlung an Sophokles Tragödie „Ödipus auf Kolonos“ an. Antigone wird von ihrem Onkel Kreon, Herrscher über Theben, zum Tode verurteilt. Antigone ist eine der beiden Töchter des Ödipus. Sie begräbt ihren Bruder Polinykes, der die Stadt angriff und wird dafür von ihrem Onkel zum Tode verurteilt.
Das Werk „Moira“ zeigt Antigone in der Erkenntnis ihres nahe bevorstehenden Todes. Es leuchtet wie ein Seelenspiegel Antigones inneres Beben aus. Ihr Weh ist von Klage erfüllt. Der Akkordeonpart stützt diese Ausdruckskraft vollständig. Er leuchtet die tiefsten Tiefen und die höchsten Höhen aus, formt banges Erschauern und klangliches Beben. Die Energie des Gesanges schreibt sich im Akkordeonpart fort. (https://joachimheintz.de/globales/2008_Moira.pdf)
Dies ist der Text, den Younghi Pagh-Paan vertont hat:
Geht, Geht – Seufzer – Geht – Seufzer –
Lasst mich!
Weh, Weh, Weh mir! Lasst mich!
- Seufzer – Geht, Geht. Es naht, es naht der Tod, Tod, der Tod.
Weh, Weh mir, es naht der Tod – Seufzer – Weh mir, es naht der Tod –
- Seufzer – lebendig soll ich steigen in die Gruft. Lebendig in die Gruft.
Doch, doch, wenn die Götter wollen, die Götter wollen, dass ich leide
So lerne ich im Tod wohl meine Schuld
Wenn aber meine Feinde Schuld, dann treffe dasselbe Schicksal sie, das mir verhängt, das mir verhängt. – Seufzer – Der Tod. Dasselbe Schicksal – Seufzer – das mir verhängt
Die drei Säulen
Folgt man Silke Leopold (link: https://www.pagh-paan.com/docs/2020_laudatio_berlin.pdf )in ihren Ausführungen über Younghi Pagh-Paans Schaffen, so identifiziert sie drei Säulen, auf denen ihr bisheriges kompositorisches Werk ruht. Es ist dies als stärkste Wirkmacht die Spannung zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Ein weiteres Lebensthema ist darüber hinaus Politik; das Eingebundensein in politische Unrechtsstrukturen und Gewalt und den Widerstand dagegen. Und schließlich eine Fülle von philosophischen und religiösen Themen, bei denen Younghi Pagh-Paan eine Zusammenschau scheinbar weit entfernter Wirklichkeiten gelingt.
Betrachtet man „Moira“ aus diesen drei Blickwinkeln erhält das Werk einen umfangreichen Bezugsrahmen voller unterschiedlichster Quellen.
Die Sängerin hat einen auffälligen Holzstab, mit dem sie immer wieder auf den eigenen Handballen schlägt. Er ist längs gespalten, so dass dabei beide Holzseiten aufeinander schlagen. Ein solcher Stab wird in buddhistischen Klöstern benutzt, um Menschen aus einem Warteraum auf zu rufen. Im übertragenen Sinne liegt der Aufruf Antigones zu ihrem Schicksal als Assoziation sehr nah. Dieses koreanische Instrument liefert die Schläge, die zum Vollzug aufrufen. Hier begegnet uns die Sängerin, die sich selbst mit einem Schlaginstrument begleitet, ähnlich wie im traditionellen Pansori-Gesang. Der Mezzosopranstimme, die der Klangaura abendländischer Stimmbildung entstammt, wird das fernöstliche Instrument beigegeben, womit die Sängerin in beiden Welten beheimatet ist. Mit „Moira“ erfolgt eine Aneignung der fremden Stimme zum Eigenen hin.
In der Oper Mondschatten gibt es auf der textlichen Ebene eine Verbindung von zen-buddhistischen Haikus, Texten des in Deutschland lebenden koreanischen Philosophen und Kulturwissenschaftlers Byung-Chul Han und der altgriechischen Tragödie. Betrachtet unter dem Licht Silke Leopolds, hat die Sängerin als Antigone Figur eine sehr starke politische Aussage. Sie ist in der Literatur die erste Frau, die sich der Hierarchie widersetzt. Sie ist die erste literarische Person, die sich staatlichem Terror widersetzt. Kreon ist nicht nur ihr Onkel sondern auch das Staatsoberhaupt des Stadtstaates. Mit der Bestattung des Bruders leistet sie politischen Widerstand. Das Werk ist in ein Energiefeld gesetzt, in dem das politische Gesetz mit dem ethischen Gesetz in eine vernichtende Konfrontation gerät. Die Anknüpfung an die dritte genannte Säule, die altgriechische Philosophie, liegt auf der Hand. Sie ist der Rahmen, in dem das Werk geschieht.
„Moira“ und die fortschreitende Lebendigkeit musikalischer Strukturen
Betrachtet man den Akkordeonpart von „Moira“ und vergleicht ihn mit „NE MA-UM“ so fällt auf, dass die Komponistin kompositorisches Material entwickelt hat, das weit über ein Stück hinausreicht. Es entwickelt ein Eigenleben. Die Komponistin definiert die Klangwelt des Instrumentes in ihrem Solowerk. Diese Klangwelt findet sich in „Moira“ in einem völlig anderen Kontext wieder. Es lohnt sich, die Klänge in unterschiedlichen Registrierungen zu erproben, u ihre Vielfalt zu erleben. Das Eigenleben der verwendeten musikalischen Strukturen reicht noch viel weiter. Die Oper Mondschatten entstand in Verbindung mit diesem Grundmaterial. „Io“ für 9 Instrumentalisten ist in diesem Zusammenhang unbedingt zu nennen. Das Werk entstand 2000 also zeitlich zwischen „NE MA-UM“ und „Moira“. Es ist die erste Ausformung des akkordeonspezifischen Klanges als großes Ensemblestück. Inhaltlich verknüpft es sich zu Io, einer Figur aus der griechischen Mythologie. So ist es richtig, „NE MA-UM“ – „Io“ – „Moira“ – „Mondschatten“ in einem Atemzug zu nennen. Sie sind durchweht vom Atem des Gesanges und der Luft des Akkordeons.